Als Hannes Wilken in sein Heimatdorf zurückkehrt, ahnt er nicht, dass er in einen Strudel aus Korruption, Intrigen und Drogenhandel gerät. Doch selbst nach der Lösung des Falls bleiben Fragen offen.
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Kapitel 1
Hannes Wilken wurde in die eigenständige Welt von Friesmoor hineingeboren. Das war für ihn eine besondere Fügung des Schicksals, denn Hannes hat sich nie so richtig mit diesem Ort identifizieren können. Er fand die Friesmoorer schon immer extrem schräg und konnte mit ihren dörflichen Strukturen einfach nichts anfangen. Deshalb hat er sich auch dazu entschieden, nach seiner Schulzeit nach Hamburg zu ziehen, um dort eine Ausbildung zum Buchhalter zu absolvieren. Sein gesamtes Arbeitsleben hatte er in der Hansestadt verbracht. Wenn er genug von der Großstadt hatte, fuhr er zu Sandra nach Büddelsdörp. Sandra, eine alte Freundin aus vergangenen Tagen, lebt schon seit Jahren in diesem kleinen Ort, nicht weit von Friesmoor. Die beiden haben in den letzten zwanzig Jahren eher unregelmäßig Kontakt gehabt, aber die Verbindung ist nie abgerissen.
Aber jetzt, im Ruhestand, hat Hannes angefangen, über eine Rückkehr nach Friesmoor ernsthaft nachzudenken. Er hat erkannt, dass das Dorf auf seine eigene Art und Weise ein wahres Inselparadies ist. Zumindest aus der Ferne betrachtet.
Hannes ist jedoch nicht in Eile. Er genießt die Freiheit, die der Ruhestand mit sich bringt, und möchte sich Zeit lassen, um eine endgültige Entscheidung zu treffen. Er weiß, dass er immer noch die Option hat, nach Friesmoor zurückzukehren, aber er will auch nichts überstürzen. Es ist ein Balanceakt zwischen der Sehnsucht nach dem ruhigen Inselleben und dem Komfort und der Vielfalt, die ihm die Großstadt bietet.
Wer weiß, vielleicht wird Hannes letztendlich doch den Schritt wagen und nach Friesmoor zurückkehren. Vielleicht wird er in diesem Dorf, das er einst so seltsam fand, seinen Frieden finden und ein neues Kapitel in seinem Leben beginnen. Es bleibt abzuwarten, wie sich die Dinge entwickeln werden. Manchmal sind es gerade die Orte, die uns am fremdesten erscheinen, die uns am Ende am meisten zu bieten haben.
Doch lassen Sie mich erzählen, wie Hannes überhaupt auf die Idee kam, in seine alte Heimat zurückzukehren. Es geschah durch einen Zufall, als er eines Tages in der Abendzeitung eine unscheinbare Immobilienanzeige entdeckte. Es wurde eine alte, heruntergekommene Fischerkate zu einem erschwinglichen Preis angeboten. Hannes war sofort neugierig, denn er hatte schon immer eine Schwäche für alte Katen hinter den Deichen. Er konnte sich förmlich die steife Brise und die salzige Seeluft vorstellen. Die Vorstellung, in einer solchen Kate direkt an der Nordseeküste zu wohnen, begeisterte ihn.
Also zögerte er nicht lange und rief den Makler an, um weitere Informationen zu erhalten. Die Dame am anderen Ende der Leitung teilte ihm den Ort mit, an dem sich die angebotene Kate befand. Und da passierte es: Hannes musste erst einmal kräftig durchatmen. Es stellte sich heraus, dass es sich um die alte Fischerkate auf dem Deich in Friesmoor handelte, seinem Geburtsort. Plötzlich fand er sich in einem Wirbel der Erinnerungen wieder.
Diese Fischerkate hatte für ihn schon immer etwas Magisches. Als Kinder hatten sie einen großen Bogen um sie gemacht. Geschichten über sie wurden und werden bis heute erzählt. Da war die Geschichte des berüchtigten Schneidermeisters Bartels, der in alten Geschichten gerne mal verschwiegen wird, obwohl er viel Gutes für das Dorf getan hat. Ihm wurde als Kind erzählt, dass der Geist des Schneiders noch immer sein Unwesen treibt. Es heißt, Schneider Bartels habe angeblich acht Frauen ermordet und sie auf dem Dachboden zum Ausbluten gehängt. In windstillen, mondarmen Nächten soll man angeblich ihr Wimmern hören können.
Sie können sich sicher vorstellen, dass diese Geschichte den kleinen Hannes ordentlich Gänsehaut bereitet hat. Doch jetzt, viele Jahre später, sah er die alte Fischerkate mit anderen Augen. Vielleicht war es an der Zeit, die Geister der Vergangenheit zu vertreiben und sich seinen Ängsten zu stellen. Vielleicht konnte er in dieser Kate, die ihm so viel bedeutete, sein neues Zuhause finden und seine eigenen Geschichten schreiben.
Hannes hatte viel zu bedenken, aber er war auch bereit, die Vergangenheit hinter sich zu lassen und einen neuen Anfang zu wagen. Ob er letztendlich den Mut findet, nach Friesmoor zurückzukehren und die alte Fischerkate zu seinem neuen Heim zu machen, bleibt abzuwarten. Aber ich bin mir sicher, dass er mit all den Erinnerungen, der Magie des Ortes und vielleicht sogar mit dem Geist des Schneidermeisters Bartels im Rücken seine ganz eigene Geschichte in diesem verwunschenen Dorf schreiben wird.
»Warum wird dieses Haus, nach all den Jahren des Leerstandes, ausgerechnet jetzt verkauft?«, fragte Hannes verwundert. Die Mitarbeiterin des Maklerbüros konnte ihm darauf keine genaue Antwort geben. Aber das war für Hannes nicht das Entscheidende. Er kannte den Namen Schneider Bartels nur allzu gut. Sein Urgroßvater, Julius Wilken, hatte Bartels einst als Lehrling ausgebildet. Nach dem mysteriösen Tod seines Urgroßvaters hatte August Friedrich Bartels die Schneiderei übernommen und sie weit über die Grenzen Friesmoors hinaus bekannt gemacht. Das aber ist eine andere Geschichte und soll an anderer Stelle erzählt werden. Es war eine geschichtsträchtige Verbindung, die Hannes mit diesem Ort und der Kate hatte.
Ohne großartig nachzudenken, kaufte Hannes dieses alte Fischerhaus, obwohl er es zuvor nicht einmal besichtigt hatte. Der Gedanke an die Geschichte hinter dem Haus und die Verbundenheit zu seiner Familie ließen ihn diese Entscheidung treffen. Er war voller stolz, als er seiner langjährigen Freundin Sandra van de Beeken am Telefon davon berichtete. Doch ihre Reaktion überraschte ihn. Sie fragte erstaunt, warum er nicht zu ihr auf den Hof kommen würde. Sie hatte angenommen, dass Hannes in seinem Ruhestand zu ihr nach Büddelsdörp ziehen würde. Doch Hannes hatte andere Pläne.
Für ihn kam es nie in Frage, in Büddelsdörp sesshaft zu werden. Er sah Sandra als gute Freundin, aber eine feste Lebenspartnerin wollte er dort draußen nicht finden. Er fühlte sich in diesem ländlichen Umfeld von Büddelsdörp nicht wirklich zuhause. Er wollte nach Friesmoor zurückkehren, auch wenn es ein eigenwilliges Dorf war. Friesmoor hatte er nie aus den Augen verloren, und mit zunehmendem Alter wuchs sein Interesse an seinem Heimatort immer weiter. Er verfolgte aufmerksam die Neuigkeiten und wusste, dass mit der neuen Bundesstraße, der Autobahnanbindung und dem neuen Widistunnel die Immobilienpreise in Friesmoor steigen würden. Das war für ihn ein weiterer Grund, sich dort niederzulassen.
Ursprünglich hatte Hannes sogar erwogen, das Elternhaus in der 'Kirchgasse' zu kaufen. Doch leider stand es in all den Jahren nicht zum Verkauf. Aber das war auch nicht weiter schlimm für ihn, denn er fand das Haus schon damals zu eng und die Nähe zur Kirche war nicht sein Ding. Dennoch hätte er es schön gefunden, wieder in diesem vertrauten Umfeld zu leben.
Jetzt, da er die alte Fischerkate gekauft hatte, konnte er sich auf sein neues Abenteuer vorbereiten. Er hatte genug Geld im Laufe der Jahre gespart, um sich seine Träume zu erfüllen, aber stattdessen entschied er sich dafür, ein Haus zu kaufen. Es fühlte sich fast wie ein Wink des Schicksals an.
Ein weiteres Argument für Hannes' Entscheidung, nach Friesmoor zurückzukehren, war der boomende Inlandstourismus in ganz Deutschland. Immer mehr Menschen zogen es vor, im eigenen Land Urlaub zu machen, und Friesmoor stand dabei ganz oben auf ihrer Liste. Besonders, wenn die Halbinsel in naher Zukunft noch einfacher zu erreichen wäre. Schließlich gab es dort die historische Dampffähre, die einzigartig in ganz Europa ist. Das allein war schon ein Grund für viele, nach Friesmoor zu kommen und die besondere Atmosphäre zu genießen.
Aber es war nicht nur die Dampffähre, die die Leute anzog. Friesmoor hatte auch einen bezaubernden historischen Ortskern mit einer wunderschönen Kirche aus dem 17. Jahrhundert, um die viele andere Orte Friesmoor beneiden. Dieser historische Charme und die einzigartige Atmosphäre des Dorfes waren für viele Besucher ein Grund, immer wieder nach Friesmoor zurückzukehren. Es war ein Ort, der eine gewisse Faszination ausübte und eine ganz besondere Aura besaß.
Aufgrund dieser Attraktivität hatten die Bewohner von Hornum den Gedanken, die Halbinsel Friesmoor in ihr eigenes Gemeindegebiet einzugliedern. Sie dachten, dass dies für alle Beteiligten von Vorteil wäre. Doch sie hatten die Rechnung ohne die Friesmoorer Dorfversammlung gemacht. Die Friesmoorer waren bekannt für ihren Stolz und ihre Eigenständigkeit. Sie liebten ihr Dorf und waren nicht bereit, es ohne Weiteres aufzugeben. Die Dorfversammlung, in der alle wichtigen Entscheidungen getroffen wurden, war das Herzstück des Gemeinschaftslebens auf Friesmoor. Hier wurden Meinungen ausgetauscht, Debatten geführt und letztendlich wichtige Beschlüsse gefasst.
Die Verwaltung von Hornum hatten sicher gute Argumente für ihre Idee, aber die Friesmoorer waren einfach nicht bereit, ihre Eigenständigkeit für die arroganten Hornumer aufzugeben. Sie waren stolz darauf, Teil dieser besonderen Insel zu sein, und wollten es unbedingt bewahren. Die Dorfversammlung hatte schon so manche Diskussionen und hitzigen Debatten gesehen, und auch dieses Mal würden die Friesmoorer ihre Stimme erheben und ihre Meinung kundtun.
So blieb es abzuwarten, wie die Situation sich entwickeln würde. Die Diskussionen und Verhandlungen zwischen den verschiedenen Parteien würden sicher noch einige Zeit in Anspruch nehmen. Aber eins stand fest: Die Friesmoorer waren entschlossen, ihre Identität zu bewahren und ihre einzigartige Gemeinschaft zu schützen.
»Ach ja, die Dorfversammlung«, dachte Hannes, während er auf dem Weg nach Friesmoor war, »die hat ja in Friesmoor das Sagen.« Für Friesmoor waren der Bürgermeister und der Gemeinderat nur ein politisches Gremium, das ihnen aufgezwungen wurde. Das wahre Entscheidungsgremium war seit Jahrhunderten traditionell die Dorfversammlung mit ihrem Ältestenrat. Und Hannes hatte Glück, denn er gehörte automatisch dem Ältestenbeirat an. Einerseits aufgrund seines Alters und andererseits, weil seine Familie schon seit sechs Generationen in Friesmoor ansässig war. Der Ältestenbeirat war eine Art Vorstufe zum Ältestenrat, dem er ab seinem 70. Lebensjahr angehören würde. Demnach war Hannes ein waschechter Friesmoorer!
Dieses festverankerte und unerschütterliche Gesetz der Friesmoorer Krone hatte Hannes völlig vergessen. Alle anderen, die nicht seit mindestens drei Generationen hier leben, gelten als Zugereiste und werden spöttisch als »Neulinge« bezeichnet. Diese altbackene Denkweise führte oft zu Spannungen zwischen den Einwohnern, besonders bei den Neubürgern.
Während der langen Fahrt nach Friesmoor musste Hannes an den gestrigen Abend denken. Er hatte mit seinen Freunden Abschied gefeiert, natürlich in seiner Stammkneipe 'Bei Trude'. Und wie schon nach seinem 60. Geburtstag wachte er am nächsten Morgen mit Trude im Bett auf. »Ach, das war ein schöner Abschied«, dachte er mit einem Lächeln im Gesicht, während er in die Inselstraße abbog, die einzige Straße, die auf dem Landweg ins Dorf führt. Der Großteil dieser Halbinsel wird von der wilden Nordsee und ihrem ausgedehnten Watt umgeben. In südlicher Richtung mündet die Widis in die Nordsee und schlängelt sich über eine Strecke von etwa 16 Kilometern an Friesmoor vorbei. Eine Brücke verbindet die Halbinsel mit dem Festland, da dies nach wie vor die einzige zuverlässige Verbindung durch das mystische Sumpfgebiet des Friesmarschermoores und des Aschenflechter Moores ist, die hier aufeinandertreffen.
Er parkte den Transporter direkt vor seinem neuen Domizil, der alten Fischerkate in der Straße 'Am Deich'. »Auf den ersten Blick sieht sie noch ganz ansehnlich aus, aber kleiner als früher«, überlegte er, während er die Deichtreppe hinaufging.
Vor dem Haus wartete die Maklerin ungeduldig und lief aufgeregt hin und her. In ihrer Hand klapperte sie mit den Schlüsseln. Hannes hoffte nur, dass ihre Stöckelschuhe nicht das uralte Ziegelpflaster zerstören würden. Die spitzen Absätze bohrten sich teilweise bedrohlich tief in den porösen, jahrhundertealten Stein. Seit Hannes aus dem Transporter gestiegen war, hatte er ein merkwürdiges Gefühl in der Magengegend. Es war, als könne er die Blicke spüren, die auf ihn gerichtet waren. »Aber wahrscheinlich bilde ich mir das nur ein«, dachte er und versuchte, sich nicht weiter davon beeindrucken zu lassen.
»Sie müssen Herr Wilken sein?«, stellte die Maklerin fest und reichte ihm zur Begrüßung die Hand. Hannes erwiderte den Gruß und nahm die Schlüssel aus ihrer zarten Hand entgegen. Gemeinsam schlossen sie die alte Eichentür auf, und ein alter, abgestandener und modriger Geruch schlug ihnen entgegen. »Hier wurde schon lange nicht mehr gelüftet«, bemerkte die Maklerin und rümpfte ebenfalls die Nase. »Sieht ganz so aus«, entgegnete Hannes.
Bevor sie weitergingen, bat die Maklerin Hannes, an einigen Stellen zu unterschreiben. Sie holte eine Schreibmappe hervor und hielt ihm einen Kugelschreiber vor die Nase. Ihre zarten Finger schienen ebenso dünn und lang wie der Kugelschreiber zu sein. Hannes kam der Bitte nach und setzte seine Unterschrift unter die Dokumente. Es war ein symbolischer Moment für ihn, der den offiziellen Beginn seines neuen Lebens in Friesmoor markierte.
»Und damit, Herr Wilken, beglückwünsche ich Ihnen zu dieser ...«, begann die Maklerin, machte dann eine kleine Pause und fand schließlich die richtigen Worte, »beeindruckenden Immobilie. Obwohl 'beeindruckend' wahrscheinlich eher anders zu sehen ist.«
Hannes bedankte sich höflich und war froh, als die Maklerin endlich ging. Er wusste, dass es viel Arbeit erfordern würde, das alte Fischerhaus wieder bewohnbar zu machen. Sein erster Gedanke galt der Frischluft, die in das Haus musste. Er öffnete die Fenster und ließ den Wind hereinströmen, um den muffigen Geruch zu vertreiben.
Während die Maklerin sich umdrehte und ging, konnte Hannes nicht umhin, sie kurz von oben bis unten zu mustern. Er konnte seinen Blick nicht von ihrem hinreißenden Hinterteil abwenden. »Hmm, anscheinend weiß sie genau, wo ich hinschaue, wenn sie die Treppe hinuntergeht«, dachte Hannes schmunzelnd. Er spürte aber auch, dass andere Blicke auf ihn gerichtet waren. Es war, als würden die Bewohner von Friesmoor ihn neugierig beobachten.
Er begann damit, die ersten Möbelstücke ins Haus zu bringen. An ein richtiges Einrichten war im Moment noch nicht zu denken, da das gesamte Haus einer Kernsanierung bedurfte. Er stapelte die wenigen Möbel vorerst im vordersten Raum, der später einmal ein Gästezimmer werden sollte.
Kaum war er zurück beim Transporter, spürte er plötzlich ein Schulterklopfen. Hannes drehte sich um und sah den Bürgermeister Magnus Flemming Carlson vor sich. Er war überrascht und fragte sich, was nun auf ihn zukommen würde.
»Ich heiße Sie herzlich willkommen in Friesmoor, Herr Wilken«, sagte der Bürgermeister freundlich. »Rat und Verwaltung möchten Sie in unserem wunderschönen Ort willkommen heißen. Ihr Ruf ist Ihnen vorausgeeilt. Leute wie Sie, die etwas bewegen können, werden hier gebraucht!«
Hannes war innerlich etwas skeptisch. Er konnte die Schmeicheleien des Bürgermeisters durchschauen. Solche Menschen, die ständig eine Schleimspur hinter sich herzogen, waren ihm zuwider. Doch er behielt seine Höflichkeit und bedankte sich artig für den Willkommensgruß. Dann schnappte er sich das nächste Möbelstück und machte deutlich, dass er gerade viel zu tun hatte.
Während Hannes weiterarbeitete, schimpfte der Bürgermeister leise vor sich hin. »Unfreundlicher Mensch, dieser Wilken! Was bildet er sich denn ein?« Doch Hannes kannte die Medienberichte und Internet-Posts über Bürgermeister Carlson. Er wusste, dass dieser Bürgermeister ein Neuling war, während er selbst schon eine lange Verbindung zu Friesmoor hatte. »Ich bin hier derjenige, der hier verwurzelt ist, auch wenn es ihm vermutlich niemand gesagt hat«, dachte Hannes und musste schmunzeln.
Nachdem Hannes alle Möbel im Haus verstaut hatte, machte er sich Gedanken darüber, wo er vorübergehend wohnen könnte. Er parkte seinen Kastenwagen auf dem Großraumparkplatz am Rande des Ortes, da wo die Touristen ihre Fahrzeuge abstellen müssen, und schlenderte durch den historischen Ortskern. Er war erstaunt, wie wenig sich hier verändert hatte. Das 'Brauhaus', die Brennerei, das Café - alles war wie früher, nur gepflegter und aufpolierter. Als er weiterging, bemerkte er überrascht, dass die meisten Geschäfte, die er aus seiner Kindheit und Jugend kannte, immer noch existierten und ihre Waren in den Schaufenstern ausstellten.
»Wow«, dachte Hannes, »das spricht wirklich für Friesmoor.« Aber das änderte nichts an der Tatsache, dass er immer noch keine Unterkunft für die nächste Zeit hatte. Eine Pension kam für ihn nicht infrage, denn er brauchte jeden Cent für die Sanierung seiner alten Fischerkate. Dabei überkam ihn erneut dieses Gefühl, beobachtet zu werden. Hannes drehte sich mehrmals um, aber da war nichts. »Na warte, dich kriege ich noch«, dachte er und setzte sich auf eine Bank unter einem Baum, am Rande des Rathausplatzes. In der Mitte des großzügig angelegten Platzes sprudelte ein Brunnen leise vor sich hin. Von dort aus hatte er einen guten Blick auf den gesamten Platz. Die einzige Person, die aus seiner Richtung kam, war eine Frau, die er vorher nicht bemerkt hatte. Sie trug eine Sonnenbrille und einen modischen Strohhut. Das kam ihm verdächtig vor, und er überlegte, ob er einfach übermüdet war und sein Kopf ihm Streiche spielte. Er beobachtete die anderen Menschen um sich herum, konnte jedoch keine weiteren Hinweise auf jemanden, der ihn beobachtete, entdecken. Schließlich setzte Hannes seinen Weg zur Fischerkate fort und dachte darüber nach, seinen alten Kumpel Doc Knaack um eine Schlafgelegenheit zu bitten.
Plötzlich bemerkte er, dass die Frau mit dem Strohhut vor einem Schaufenster stand. »Clever«, dachte Hannes, »sie benutzt das Schaufenster als Spiegel, ein alter Agententrick.« Er konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Langsam ging er auf das Schaufenster zu, stellte sich neben die Dame und fragte nach Feuer. Zum Glück hatte sie keins, sonst hätte er ziemlich dumm dagestanden, ohne Zigarette. Die Frau wandte sich ab und ging weiter. Hannes folgte ihr, denn in diese Richtung lag sein neues Domizil an der Straße 'Am Deich'. Die Fremde hatte sein Interesse geweckt, und sie bog an der nächsten Ecke nach rechts ab. Hannes ging geradeaus weiter. »Entweder ist sie wirklich clever, oder ich habe mich getäuscht«, überlegte er. Doch seine Gedanken kehrten immer wieder zu der Frage zurück, wo er die nächsten Tage übernachten sollte.
Schließlich beschloss er, sich ein Zimmer im Dachgeschoss einzurichten. »Ein Bett, ein Tisch und ein Stuhl sollten vorerst genügen«, dachte er. Es gab jedoch ein Problem: Wie sollte er in den nächsten Tagen ohne Strom und Wasser auskommen? Er überlegte, ob er eine provisorische Regenwasserdusche im Schuppen einrichten könnte. Die große Wassertonne am Schuppen würde vorerst ausreichen. Ansonsten führte die Widis genug Wasser mit sich, oder er musste ins Schwimmbad nach Hornum gehen. Es war eine improvisierte Lösung, aber Hannes war zuversichtlich, dass er es irgendwie schaffen würde. Falls nötig, würde seine Schwester Ulrike ihm sicherlich gestatten, bei sich zu duschen. Sie lebte in einer kleinen Einzimmerwohnung im Zentrum des Ortes. Eine Unterbringung war also keine Option.
Während sie durch die malerischen Gassen von Friesmoor schlenderten, begann Hannes darüber nachzudenken, wie schön es war, endlich ein paar Nachbarn kennengelernt zu haben. Es war doch etwas einsam gewesen, seit er hierher gezogen war. Die kleinen Feiern in seinem Hamburger Mietshaus hatten ihm immer ermöglicht, neue Leute kennenzulernen und Freundschaften zu schließen. Und jetzt hoffte er, dass es hier auf dem Dorf genauso einfach sein würde.
Währenddessen ließ Gerda ihre Blicke durch die Gegend schweifen. Sie genoss es offensichtlich, mit Hannes zusammen spazieren zu gehen. Es war eine willkommene Abwechslung zu ihrem Alltag, der seit dem Tod ihres Mannes oft einsam gewesen war.
Sie blieb unerwartet stehen und deutete auf ein Haus am Ende der Straße. »Schau mal, das Haus da unten«, sagte sie und Hannes folgte ihrem Blick. Das Haus sah gemütlich aus, mit Blumenkästen an den Fenstern und einer kleinen Bank im Vorgarten.
»Wer wohnt da?«, wollte Hannes wissen. Gerda hob nur ihre Schultern. Hannes war neugierig und beschloss, auch diese Nachbarn kennenzulernen. »Vielleicht könnten wir sie auch zum Grillen einladen. Es wäre schön, die ganze Nachbarschaft zusammenzubringen«, schlug er vor.
Gerda nickte zustimmend. »Das ist eine großartige Idee! Ich denke, sie würden sich darüber freuen. Es wäre schön, wenn sich hier eine echte Gemeinschaft entwickeln könnte.«
Hannes konnte nicht anders, als ein Lächeln aufzusetzen, als Gerda von den »komischen Frauen« erzählte, die seine Nachbarn zur Rechten waren. Die Beschreibung von Jutta Claßen und ihrer Tochter Natalie weckte seine Neugier. Mit ihren schwarzen Klamotten, den Tattoos und den offenbar recht ausgefallenen Gewohnheiten schienen sie genau das zu sein, was Hannes gesucht hatte: ein wenig Abwechslung in seinem beschaulichen Dorfleben.
»Gothic-Girls?«, fragte Hannes aufgeregt. Er konnte es kaum erwarten, mehr über seine Nachbarn zu erfahren. Aber Gerda spielte unwissend und fragte, was genau Gothic-Girls denn seien. Offenbar war das in Hamburg eine ganz normale Erscheinung, aber hier auf dem Lande, dazu auf einer eigenwilligen Halbinsel? Gerda schien nicht besonders begeistert von den Frauen zu sein.
Hannes ließ sich nicht so leicht abschrecken und bohrte weiter nach. »Magst du sie etwa nicht?«, wollte er wissen. Doch Gerda schüttelte sich und zeigte deutlich, dass sie nicht viel von den Nachbarinnen hielt. Die Piercings im Gesicht schienen ihr ein besonderer Dorn im Auge zu sein.
Aber Hannes war entschlossen, seine neuen Nachbarinnen selbst kennenzulernen und sich ein eigenes Bild von ihnen zu machen. »Dann werde ich sie eben auch zum Grillen einladen«, verkündete er selbstbewusst. Er war sich sicher, dass sie bestimmt ganz nett waren, auch wenn Gerda ihre Bedenken hatte.
»Dein Wort in Gottes Ohr!«, erwiderte Gerda mit einem skeptischen Blick. »Aber sei gewarnt, sie waren schon eine ganze Weile nicht mehr hier. In letzter Zeit habe ich den Eindruck, dass sie ihr Haus vermieten und ständig neue Leute dort einziehen.«
Hannes dachte einen Moment nach. Es schien, als ob seine Nachbarn zur Rechten einiges an Aufregung mit sich brachten. Aber das machte ihn nur noch neugieriger. Er wollte unbedingt herausfinden, was es mit diesem ständigen Wechsel auf sich hatte und ob er sich mit den neuen Bewohnern genauso gut verstehen würde wie mit Gerda.
Die Vorstellung, dass sein beschauliches Dorfleben durch diese aufregenden Nachbarn eine interessante Wendung nehmen könnte, ließ Hannes schon jetzt sein Herz höher schlagen. Er beschloss, nicht länger zu warten und bald schon eine Einladung zum Grillen auszusprechen. Vielleicht konnte er so herausfinden, was es mit den ständigen Veränderungen in dem Haus auf sich hatte.
Aber eins war sicher: Mit den »komischen Frauen« als Nachbarn würde es bestimmt nicht langweilig werden.
Hannes war sich der zwielichtigen Aktivitäten, die sich während seines romantischen Spaziergangs abspielten, nicht bewusst. Während er mit Gerda die engen, von der Abenddämmerung beleuchteten Gassen entlangschlenderte, hatten sich zwei Gestalten heimlich Zutritt zu seinem Anwesen verschafft. Mit einem Dietrich öffneten sie leise die Tür und bahnten sich den Weg zu Hannes' Lagerraum, in dem seine Möbel aufbewahrt waren.
In der Dunkelheit flüsterte einer der Eindringlinge in gebrochenem Deutsch mit osteuropäischem Akzent: »Rahat! Wie kommen wir an die Taschen heran?«
Sie waren offensichtlich über Hannes' Möbel überrascht, die unerwartet in dem Raum untergebracht worden waren. Hannes ahnte nichts von der Gefahr, die sich in seiner Nähe befand. Er war mit Gerda voll und ganz in den Moment vertieft, die trügerische Ruhe in den Gassen zu genießen. Sie drückte sich näher an Hannes und fragte mit Begeisterung: »Ist das nicht romantisch, dieses Licht in den engen Gassen?«
Hannes, der eher ein pragmatischer Mensch war und sich nicht viel aus romantischen Momenten machte, antwortete knapp mit einem »Jo«. Er war nicht sonderlich interessiert an der Ästhetik des Lichts oder an romantischen Gesten. Aber den Augenblick mit einer Frau im Arm, das konnte er dennoch genießen, selbst wenn es in Strömen regnete.
Die Diebe tasteten sich vorsichtig durch das Dunkel des Lagerraums, während draußen das sanfte Licht der untergehenden Sonne eine trügerische Ruhe vorgaukelte.
»Ich habe keine Ahnung!«, antwortete einer der Eindringlinge auf die Frage des anderen. Beide sprachen mit osteuropäischem Akzent und waren sichtlich besorgt. »Wir müssen hier verschwinden!«
»Wir werden Ärger bekommen, das ist sicher«, begann einer von ihnen zu jammern.
»Sei still! Wir gehen jetzt!«, wies der andere ihn an.
Ohne Beute verließen die Einbrecher das Gebäude und schlossen sogar die Haustür hinter sich ab. In dem Chaos, das derzeit in Hannes' Baustellen-Kate herrschte, bemerkte er nicht einmal ihren Besuch. Die halbfertigen Renovierungsarbeiten hatten alles durcheinandergebracht und es war schwer, den Überblick zu behalten. Es würde noch einige Zeit vergehen, bis Hannes die Einbruchsspuren entdecken würde.
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